„Ältere Menschen können Verlorengegangenes nicht wieder aufholen“

Im Interview: Dagmar Linz von der Alzheimer Gesellschaft Thüringen e. V.

Wie geht es Menschen, die zu Hause Familienmitglieder pflegen, in der Pandemie? Welche Ängste und Nöte treiben sie um? Das haben wir anlässlich der Thüringer Aktionswoche der pflegenden Angehörigen Dagmar Linz gefragt. Die Sozialpädagogin ist die Koordinatorin des Thüringer Netzwerks Pflegebegleitung, einem Projekt der Alzheimer Gesellschaft Thüringen e. V., und berät selbst pflegende Angehörige. Die Alzheimer Gesellschaft ist korporatives Mitglied des AWO Landesverbandes Thüringen.


Frau Linz, im März 2020 haben die Pandemie und der erste Lockdown auch in Ihren Arbeitsalltag eingegriffen. Wie hat sich das auf Ihre Beratungen ausgewirkt?

Natürlich fanden erst mal alle Beratungsgespräche per Telefon statt, Präsenztermine gab es gar nicht mehr. Das ging erst im Sommer 2020 wieder los, bis zum zweiten Lockdown. Gerade, wenn Ratsuchende aus Erfurt und Umgebung das erste Mal zu mir kommen, ist eigentlich ein persönliches Gespräch in Präsenz günstiger, um Vertrauen zu fassen. Alle anderen Ratsuchenden wurden von mir auch vor dem Lockdown schon telefonisch beraten. Deswegen hat der Lockdown meine Arbeit zunächst etwas erschwert in Bezug auf Angehörige in Erfurt und Umgebung. 

Früher sind die Angehörigen 5 vor 12 zu mir gekommen – jetzt ist es oft schon 1 vor 12, die Hilfe wird seit Pandemie-Beginn oft sehr spät in Anspruch genommen - Angehörige warten nun öfter, bis nichts mehr geht. Die Ratsuchenden sind spürbar verzweifelter als vor dem Lockdown, da die Belastung plötzlich stark gestiegen ist.


Sind Sie auf neue Medien wie Videoberatung umgestiegen?

Seit Januar 2021 bieten wir auch Beratung über die Videokonferenz-Plattform BigBlueButton an. Das wird von den Angehörigen aber nur wenig angenommen. Viele von ihnen sind schon fortgeschrittenen Alters, oft ist die pflegende Person ja die Partnerin oder der Partner der Pflegebedürftigen. Diese Menschen erreiche ich nur im persönlichen Gespräch oder am Telefon.


Was war während der Pandemie die größte Sorge der Angehörigen, die Sie beraten?

Das Hauptproblem war, dass von einem auf den anderen Tag die Tagespflegen geschlossen hatten. Viele Menschen waren heillos überlastet und davon überfordert, dass sie sich nun 24 Stunden am Tag um ihre pflegebedürftige Angehörigen kümmern mussten. Auch die Pflegebedürftigen haben unter dieser Situation gelitten. Ihnen wurde die Tagesstruktur genommen, die gerade für Menschen mit einer Demenzerkrankung so wichtig ist. Ich habe in der Beratung erfahren, dass Pflegebedürftige zu Hause mehr herausforderndes Verhalten gezeigt haben, da sie die Veränderungen der Pandemie mit ihren und Einschränkungen gespürt haben. Die Demenzerkrankung ist schneller fortgeschritten.

Angehörige können nicht die gleiche professionelle Pflege und Betreuung leisten, wie die Teams in den Tagespflegen. Das kann auch ein Pflegedienst nicht abfangen. Dazu kommt die fehlende Verschnaufpause der Angehörigen in den Besuchszeiten der Tagespflege.


Wie hätte es denn laufen können oder sollen?

Wir haben das alle zum ersten Mal gemacht – im Nachhinein über richtig und falsch zu sprechen, finde ich schwierig. Aber eines ist mir wichtig: Man kann nicht einfach ein Angebot – in diesem Fall die Tagespflege – wegnehmen, ohne über alternative Angebote nachzudenken, um die Belastung der Angehörigen zu mindern. Ältere und pflegebedürftige Menschen können die vergangenen 16 Monate nicht aufholen, so wie Kinder es können. Die motorischen und kognitiven Fähigkeiten, die in dieser Zeit verloren gegangen sind, bleiben auch verloren.

Danke für das Gespräch!

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