Franziska Röser leitet die Schwangerschaftsberatungsstelle der AWO in Mühlhausen. Gemeinsam mit ihrer Kollegin führt sie jährlich über 100 Konfliktberatungen mit Frauen durch, die einen Schwangerschaftsabbruch in Erwägung ziehen. Die Debatte zum „§ 219a – Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ verfolgt das AWO-Team daher seit langem mit großem Interesse. Nun hat das neu besetzte Bundesjustizministerium einen Entwurf zur Streichung des umstrittenen Paragraphen vorgelegt.
Wie bewerten Sie die Streichung des „§ 219a – Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“?
Das ist ein guter und überfälliger Schritt. Sachliche Informationen über einen Schwangerschaftsabbruch mit Werbung gleichzusetzen, so wie es bisher geregelt war, finde ich fatal. Es handelt sich um einen ernsten, medizinischen Eingriff, den keine Frau einfach so über sich ergehen lässt, nur, weil sie dazu ein Plakat gesehen oder etwas im Internet gelesen hat. Frauen, die sich für einen Abbruch entscheiden, befinden sich in sehr individuellen, schwierigen Lebenssituationen. Für viele ist es ein sehr trauriger Schritt und keinesfalls eine leichtfertige Entscheidung aus einer Laune heraus.
In einem nächsten Schritt wäre es nun wichtig, das Thema zu entkriminalisieren.
Was meinen Sie mit entkriminalisieren?
Schwangerschaftsabbruch ist in der Bundesrepublik Deutschland nach wie vor ein Straftatbestand. Straffrei ist ein Abbruch nur dann, wenn verschiedene Voraussetzungen erfüllt sind: Die Frau muss den Abbruch ausdrücklich verlangen und durch eine Bescheinigung nachweisen, dass sie sich in einer staatlich anerkannten Beratungsstelle hat beraten lassen. Zwischen diesem Gespräch und dem Eingriff müssen mindestens drei Tage Bedenkzeit liegen, der Abbruch muss in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen stattfinden und durch einen ein Arzt bzw. eine Ärztin vorgenommen werden.
Wer wegen eines Schwangerschaftskonfliktes zu uns kommt, wurde also an uns überwiesen – es ist gewissermaßen eine Zwangsberatung. Viele Ratsuchende fühlen sich deswegen zu Beginn der Beratung unter Rechtfertigungsdruck.
Wäre es also besser, die Beratung wäre freiwillig?
Da bin ich zwiegespalten. Es ist nötig, dass die sehr schwere und persönliche Entscheidung für einen Abbruch nicht mehr unter Strafe steht und die betroffenen Frauen dadurch stigmatisiert werden. Andererseits tut die Beratung den Betroffenen gut, auch denen, die zunächst nicht freiwillig zu uns kommen. Aus unserer Erfahrung verlassen die meisten Frauen oder Paare unsere Beratungsstelle nach dem Gespräch mit einem Gefühl der Erleichterung, viele bedanken sich ausdrücklich für das offene Ohr, die ihnen zur Verfügung gestellte Zeit und die Denkanstöße. Im Gespräch mit einer ausgebildeten Beraterin, also einer neutralen Person, können sie ihre Ängste offen aussprechen, ihre Gedanken ordnen und sie gewinnen manchmal ganz neue Perspektiven auf ihre Situation. Manchen wird bei der Beratung deutlich, wo der eigentliche Grund dafür liegt, dass sie sich z. B. ein Kind nicht zutrauen. Ich fürchte, viele Frauen und Familien, für die eine Beratung besonders wichtig wäre, würden sie nicht in Anspruch nehmen, wenn sie es nicht müssten.
"Wenn hier flächendeckende Unterstützung für Menschen mit kleinem Geldbeutel vorhanden wäre, dann gäbe es viele ungewollte Schwangerschaften nicht."
Enorm wichtig finde ich aber auch ein grundlegendes Überdenken des Finanzierungssystems: Warum ist es möglich, dass die Kosten für einen Schwangerschaftsabbruch für Frauen mit keinem oder geringem Einkommen vom Bundesland übernommen - sichere Methoden der Langzeitverhütung für diese Personengruppe jedoch nicht finanziell unterstützt werden? Die einmalig hohen Kosten für beispielsweise eine Hormonspirale oder eine Sterilisation nach Abschluss der Familienplanung können sich viele unserer Klienten einfach nicht leisten. Diese Problematik beobachten wir seit Jahren. Leider gibt es seitens der Politik und des Gesundheitssystems kaum Bewegung bei diesem Thema. Wenn hier flächendeckende Unterstützung für Menschen mit kleinem Geldbeutel vorhanden wäre, dann gäbe es viele ungewollte Schwangerschaften nicht.
Hat die Corona-Pandemie Auswirkungen auf die Schwangerschaftskonfliktberatung?
Hinsichtlich der Anzahl der Beratungen gibt es keinen Unterschied zu der Zeit vor der Pandemie. Aber bei den Gründen für einen Schwangerschaftsabbruch hat sich etwas verändert. Der häufigste Grund ist zwar nach wie vor, dass die Familienplanung bereits abgeschlossen ist und sich die Familie das Leben mit einem weiteren Kind nicht vorstellen kann. Aber seit Pandemiebeginn spielen auch die Angst vor Überforderung und vor der Zukunft eine große Rolle. Insbesondere Frauen haben seit dem ersten Lockdown eine massive Mehrfachbelastung erlebt – Kinderbetreuung, Home Schooling, nebenher noch Haushalt und der eigene Job, alle sind rund um die Uhr zu Hause, die Freizeit ist auf ein Minimum reduziert. Das führt vermehrt zu innerfamiliären Konflikten. Dazu kommen eventuell noch finanzielle Einbußen durch Kurzarbeit oder Jobverlust. Diese Unwägbarkeiten machen vielen Menschen große Angst.
Die AWO ist Trägerin von zwei Schwangerschaftsberatungsstellen in Thüringen. Die beiden Einrichtungen befinden sich in Mühlhausen und Bad Langensalza, sie arbeiten unter dem Dach des AWO Regionalverbands Mitte-West-Thüringen.
Kontakt:
AWO Schwangerschaftsberatungsstelle
Görmarstraße 10
99974 Mühlhausen
Telefon: 03601 857 3022
E-Mail: skb.mhl@awo-mittewest-thueringen.de