Marie Juchacz - Frauenrechtlerin, Sozialreformerin, engagierte Politikerin

* 15.03.1879 in Landsberg an der Warthe (heute Polen) 

† 28.01.1956 in Düsseldorf

Marie Juchacz war die Begründerin der Arbeiterwohlfahrt und hatte eine bedeutende Rolle in der Geschichte der deutschen Frauenbewegung und im Kampf um die Gleichberechtigung der Frauen. Sie war die erste Frau, die in einem deutschen Parlament die Rednerbühne betrat.

Sie wurde 1879 als Tochter eines Zimmermanns geboren und wuchs in dem stark ländlich geprägten Landsberg an der Warthe auf. Bis zu ihrem 14. Lebensjahr besuchte sie die Volksschule und war danach u.a. als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin tätig. Mit dem dabei angesparten Geld konnte sie sich eine Schneiderlehre leisten. Nach dem Abschluss arbeitete sie in der Werkstatt des Schneidermeisters Bernhard Juchacz, den sie 1903 heiratete.

Sie begann, angeregt durch ihren älteren Bruder, sich für die Politik und für die Landsberger Sozialdemokratie zu interessieren. Da in Landsberg keine politische Betätigung für sie möglich war, zog sie 1906 nach der Trennung von ihrem Ehemann zusammen mit ihren zwei Kindern und ihrer Schwester Elisabeth nach Berlin um. Dort lebten sie von dem Geld, das sie mit Nähen in Heimarbeit verdienten. 1907 traten sie dem Frauen- und Mädchenbildungsverein in Schöneberg bei - als solche Vereine waren die noch bis 1908 verbotenen politischen Frauenorganisationen getarnt.

Erste politische Ämter in Berlin

Schon bald wurden den Schwestern wegen ihres Engagements die ersten Ämter und Pflichten in der sozialdemokratischen Frauenbewegung übertragen. Sie lernten, Versammlungen zu leiten und als Referentinnen über Themen wie "Religion und Sozialismus" oder "Die Frauenarbeit in der heutigen Gesellschaft" zu reden. 1908 lösten sich die Frauenvereine auf und die Mehrheit der hier organisierten Frauen trat zur Sozialdemokratischen Partei über.

Aufgrund von zwei- bis dreiwöchigen Vortragsreisen, die von der Frauenvertreterin des Reichsvorstandes arrangiert worden war, stieg der Bekanntheitsgrad der Schwestern soweit, dass Marie Juchacz 1913 vom Partei-Bezirk Obere Rheinprovinz in Köln das Angebot bekam, dort als bezahlte Frauensekretärin zu arbeiten. Damit begann ihre politische Karriere. Ihre Schwester übersiedelte mit den drei Kindern noch im gleichen Jahr ebenfalls nach Köln.

Nach Kriegsbeginn 1914 wurde die "Nationale Frauengemeinschaft für Köln" gegründet mit dem Ziel, sich gemeinsam den Problemen von Frauen in der Kriegssituation zu widmen. Marie Juchacz wurde in den Ernährungsausschuss berufen, wo die vom Reich rationierten Lebensmittel verteilt wurden. Darüber hinaus lernte sie in dieser Zeit einiges über das Armenrecht und die Armenverwaltung. Sie erkannte die Notwendigkeit einer verbesserten Armenpflege durch gelernte Kräfte aus der Arbeiterschaft, die die Notlage der Armen besser verstehen konnten als die bis dahin arbeitenden ehrenamtlichen Armenpfleger aus dem Bürgertum.

Notwendigkeit einer privaten, praktischen Fürsorge für Mütter, Arme, Kranke, Versehrte und Kinder

Sie lernte neben der staatlichen auch die praktische private Fürsorge kennen, da die "Nationale Frauengemeinschaft" Kindergärten, Beratungsstellen für Frauen von Kriegsteilnehmern und für Kriegshinterbliebene, Flüchtlingsquartiere, Hauspflege für Kranke und Invalide sowie Anstalten für Armenpflege und Kriegsfürsorge einrichtete. Auf Marie Juchacz' Initiative hin wurde eine Werkstatt eingerichtet, die Bekleidung für die Armee herstellte und Heimarbeiterinnen Arbeit gab. Damit ermöglichte sie Frauen mit Kindern einen eigenständigen Erwerb. Die Werkstatt zahlte höhere Löhne als die Industrie.

Nach vier Jahren in Köln übernahm sie 1917 die Stelle der zentralen Frauensekretärin der SPD in Berlin. Im Oktober 1917 wurde sie als einzige Frau in den Parteivorstand der nach einer Abspaltung verbliebenen Mehrheitssozialdemokratie MSPD gewählt. Mit ihren Mitstreiterinnen baute sie die sozialdemokratische Frauenbewegung neu auf. Ihr politischer Schwerpunkt war die Sozialpolitik. Sie wandte sich der besonderen Notlage und dem besonderen Fürsorgebedürfnis der Mütter zu, die bedingt durch die Kriegsjahre zunehmend erwerbstätig geworden waren und deren Existenzbedingungen sich zunehmend verschlechtert hatten.
 

1918 trat das lang erstrittene Frauenwahlrecht in Kraft - Frauen durften sowohl wählen als auch selbst gewählt werden. Marie Juchacz und ihre Schwester zählten zu den 37 ersten weiblichen Abgeordneten der Deutschen Nationalversammlung von 1919. Am 19. Februar 1919 folgte eine weitere Premiere: Marie Juchacz sprach als erste gewählte Frau vor einem deutschen Parlament.

"Meine Herren und Damen!", eröffnete sie diesen historischen Moment. "Es ist das erstemal, daß in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv, daß es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat. Die Frauen besitzen heute das ihnen zustehende Recht der Staatsbürgerinnen."

Ihr zukünftiges Hauptaugenmerk, die Sozialpolitik, stand in ihrem Redebeitrag bereits im Zentrum: "Wir Frauen werden mit ganz besonderem Eifer tätig sein auf dem Gebiet des Schulwesens, auf dem Gebiet der allgemeinen Volksbildung [...]. Die gesamte Sozialpolitik überhaupt, einschließlich des Mutterschutzes, der Säuglings-, der Kinderfürsorge wird im weitesten Sinn Spezialgebiet der Frauen sein müssen." Am 13. Dezember 1919 gründete Marie Juchacz gemeinsam mit ihren Mitstreiter*innen den "Hauptausschuss für Arbeiterwohlfahrt in der SPD" und übernahm dessen Vorsitz.

AWO - sogar in New York

Bis 1933 saß sie als SPD-Abgeordnete im Reichstag. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und der Auflösung der Arbeiterwohlfahrt emigrierte sie ins Saargebiet und - als die die dortige Bevölkerung für den Anschluss an das Deutsche Reich votierte - weiter nach Frankreich. Sie lebte im Elsass, in Paris und Marseille, ehe sie 1941 über die französische Karibikinsel Martinique nach New York floh. Bis 1949 lebte sie hier, lernte Englisch und versorgte andere Geflüchtete mit Mittagessen. Sie gründete die Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus, die nach Ende des Krieges mit Paketsendungen Unterstützung im zerstörten Deutschland leistete.

Nach ihrer Rückkehr 1949 nach Deutschland wurde sie Ehrenvorsitzende der wiedergegründeten AWO. In ihren letzten Lebensjahren, bis zu ihrem Tod 1956, widmete sie sich der Weitergabe der Traditionen der Arbeiterwohlfahrt im veränderten Deutschland. Marie Juchacz wurde auf dem Kölner Südfriedhof im Grab ihrer Schwester beigesetzt.